Panel 4: Ökologie, Technologie und Gesellschaftskritik

Panel 4: Ökologie, Technologie und Gesellschaftskritik

Samstag, 22. Juni 2019, 16 Uhr

Key-Lecture von Maria Tsenekidou (Hannover): Herrschaft als Verwaltung digital? – Zur technoökonomischen Verdinglichung von Autorität und Sand im Getriebe der Eindimensionalität
Marcuse war weder technophob noch technoeuphorisch. Aus einer dialektischen Sicht begriff er Technik kontextuell als Herrschafts- und Befreiungsinstrument. Seine Technikkritik ist als zentraler Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftskritik nachzuvollziehen. Einige Tendenzen, die aktuell unter dem Stichwort Postdemokratie diskutiert werden, hat Marcuse bereits in seiner Eindimensionalitätsanalyse problematisiert. Er begriff technologische Rationalität als politische Rationalität, die unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung irrationaler Weise zur Verdinglichung statt zur Überwindung von verselbständigter Herrschaft führe. Gerade die enorme Produktivkraftentwicklung würde progressiven sozialen Wandel eher unterbinden als befördern und auch oppositionelle Kräfte im Rahmen des Status Quo integrieren.
Inwiefern ist diese Sichtweise Marcuses unter digitalen und neoliberalen Bedingungen (nicht) aktuell? Entlang von Big Data Phänomenen lassen sich gegenwärtige Problematiken der technoökonomischen Verdinglichung von Autorität und von demokratisch unkontrollierten Formen sozialer Kontrolle veranschaulichen. Dabei wird auch Sand im Getriebe aufgewirbelt. Die Eindimensionalität bröckelt, seitdem sie ihre eigenen Erfolgsgrundlagen hinsichtlich des Erlangens von Massenloyalität zerstört; und seitdem die hochgradig widersprüchlichen informationstechnologischen Entwicklungen ein business as usual zugleich befördern und behindern. Was aus den technischen Möglichkeiten gesellschaftlich wird, lässt sich nicht technikdeterministisch klären. Es ist primär eine politische bzw. psychosoziale Praxisfrage.

Ulrich Ruschig (Bremen): Marcuse und die Befreiung der Natur
Befreit die Natur! fordert Marcuse. Ohne solche Befreiung könne die Befreiung der Menschen von kapitalistischer Herrschaft nicht gelingen. ,Befreiung der Natur‘ unterstellt, bislang sei Natur unterdrückt worden. Das impliziert, Natur als ein Subjekt anzuerkennen, das Beherrschung erfahre. In der bürgerlichen Gesellschaft erscheint die Natur als das, was kapitalistische Benutzung aus ihr machte: bloßes Rohmaterial für die Mehrwertproduktion. Dazu passend erdachte bürgerliche Philosophie den Begriff: Natur sei bloß Objekt, Materie für den Zugriff des Subjekts.
Die Befreiung der Natur nimmt ihren Anfang erst, wenn die Natur zum Material des Kapitals und dadurch ,entmenschlichte Natur‘ geworden ist. Benutzt das Kapital die Natur, verzerrt, verdeckt und unterdrückt es deren Potentiale. Doch Natur ist nicht einfach tabula rasa, in welche das Kapital alles hineinschreiben kann. Den unter kapitalistischen Bedingungen entfalteten Produktivkräften eignet die Dialektik, mit den aus dem Kapitalverhältnis herrührenden zerstörerischen Momenten zugleich Momente zu entwickeln, wodurch die Natur überhaupt erst auf ihr Potential zu ihrer Befreiung stößt oder gestoßen wird.
Befreiung der Natur meint: Im Subjekt könne die Natur vollbringen, was sie von sich aus vergebens vermöchte, nämlich erwachen und erstmals ihre Augen aufschlagen. Erweckung der Natur ist conditio sine qua non der kommunistischen Gesellschaft.

Alexander Kurunczi (Bochum): Avocados oder Automaten? Zu Marcuses Gesten einer ökologischen Utopie
Angesichts der Virulenz ökologischer Fragen und der Notwendigkeit angesichts drohender Klimatatastrophen nachhaltige Formen der Organisation von Gemeinschaft zu entwickeln, steht nicht zuletzt die Kritische Theorie vor der Herausforderung, die normativ gesättigte Entwicklung möglicher post-kapitalistischer Zukunftsentwürfe mitzugestalten. Das Potenzial öko-sozialistischer Utopien soll aufbauend auf den Ausführungen Marcuses zum unsicheren Grund der Revolution konturiert werden. Seine programmatischen Überlegungen zum „Niemandsland der Utopie“ offerieren hier eine Perspektive, die sich als bedeutsam erweist, um das Verhältnis von Kapitalismus und Klimakatastrophe analytisch fassen zu können und radikal solidarische Handlungsformen zu entwickeln. Wird die Zukunft gegenwärtig insbesondere an Hand der Achsen der Entscheidungen des Konsum- und Lebensstils von Konsument*innen und einem als „techno-fix“ apostrophierten prometheischen Technik- und Wissenschaftsverständnis debattiert, betonen gerade Marcuses Ausführungen zur Ambivalenz der Produktivkräfte, die Kurzsichtigkeit und inhärente Komplizität solcher Lösungsvorschläge, welche dem Paradigma des „green capitalism“ verhaftet bleiben. Ausgehend von dieser Diagnose versucht dieser Vortrag, Marcues Gesten zu einer sozialistischen und ökologischen Utopie weiterzudenken und mögliche Strategien widerständiger, militanter, antikomplizitärer und gegenhegemonialer Bewegungen im technologisierten neoliberalen, postfordistischen Spätkapitalismus herauszuarbeiten.