Panel 2: Ästhetik und Befreiung

Panel 2: Ästhetik und Befreiung

Samstag, 22. Juni 2019, 13 Uhr

Key-Lecture von Roger Behrens (Hamburg): Versuch über die Befreiung – die ästhetische Dimension

1969 war 1968 schon vorbei, die Revolution hatte nicht stattgefunden und die drei zentralen Forderungen »Die Phantasie an die Macht!«, »Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche!« und schließlich, die meist vergessene, »Arbeitet niemals!« blieben in jeder Hinsicht unabgegolten, bis heute. Alle drei Forderungen waren und sind verknüpft mit dem, was Herbert Marcuse schon 1955 in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ als »ästhetische Dimension« fasste. Die »ästhetische Dimension« ermöglicht, wie Marcuse dann in ›Versuch über die Befreiung‹ 1969 ausführte, das Zusammenspiel einer »neuen Sensibilität mit einer neuen Rationalität«; sie wird »eine Art Eichmaß für eine freie Gesellschaft«, die aus einer Revolution resultierte, die den Menschen »von den repressiven Befriedigungen der unfreien Gesellschaften befreit« und so den geschichtlichen Boden dafür bereitet, dass die Menschen sich über neue, noch zu entdeckende und zu formulierende menschliche Bedürfnisse als Menschen überhaupt erst (selbst) begegnen können. Die Kunst bewahrt dieses Versprechen auf Befreiung – aber zugleich ist sie auch »Waffe der Kritik« (Marx), und zwar gerade dann, wenn sie in die politische Praxis eingebunden, ja selbst politische Praxis wird: Marcuse sprach vom »ästhetischen Ethos« der Revolution, auch vom »Ästhetischen als mögliche Form einer freien Gesellschaft«.
Mit dieser Verbindung von Befreiung und Ästhetik, die auf Schiller zurückverweist, ging Marcuse in seiner kritischen Theorie über Adorno hinaus (Adorno stirbt 1969; posthum erscheint die ›Ästhetische Theorie‹ 1970), gerade weil er die Bedeutung der Praxis anders akzentuierte; das zeigt sich an der Stellung von Kunst und Ästhetik in Marcuses Schriften: In ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ und ›Der eindimensionale Mensch‹, in ›Versuch über die Befreiung‹, ›Konterrevolution und Revolte‹ und selbst in der Spätschrift ›Die Permanenz der Kunst‹ sind die Analysen zu Kunst und Ästhetik immer gesellschaftskritisch kontextualisiert, ist die »ästhetische Dimension« auf die Möglichkeit der sozialen Emanzipation, schließlich Revolution gerichtet (›The Aesthetic Dimension‹ ist der Titel der US-amerikanischen Ausgabe von ›Die Permanenz der Kunst‹).
Überdies versuchte Marcuse durch seine philosophisch radikalisierte Freud-Lektüre an die (klassischen) Avantgarden anzuknüpfen, vor allem an den Surrealismus (der selbst wesentlich psychoanalytisch beeinflusst ist); insofern bedeutet die ästhetische Dimension der Befreiung auch die Aktualisierung der alten Avantgarde-Forderung, Kunst in Lebenspraxis zu überführen. Das wiederum brachte Marcuse in die Nähe der – gleichwohl selbst in ihren subversiven Formen maßgeblich an Markt und Profit ausgerichteten – Popkultur; zumindest interpretierte Marcuse Rock ’n‘ Roll und Soul immer wieder sporadisch als eine Kulturrevolution, die eben die ästhetische Dimension der Befreiung politisch-künstlerisch aufgenommen hatte.
Zu diskutieren ist, ob Marcuse nicht angesichts der von ihm selbst diagnostizierten »Konterrevolution« die Kräfte der ästhetischen Dimension der Befreiung überschätzte, ob er nicht schließlich die Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaften in Hinblick auf ihre Integrationsfähigkeit gerade in Bezug auf Kunst und Ästhetik unterschätzte. Der Vortrag versucht dafür sowohl historisch und systematisch die Genese der (bürgerlichen) Kunst zu rekonstruieren, als auch einerseits die – sehr unterschiedliche, wenn nicht disparate – Rezeption von Marcuses kritischer Theorie seit 1968 zu beleuchten, andererseits andere, zu Marcuse mitunter kontrovers entwickelte Konzepte materialistischer Ästhetik in den Blick zu nehmen. – Fünfzig Jahre nach Marcuses radikaler Verbindung von Emanzipation und Ästhetik ist eine ebenso radikale Neubewertung fällig – nicht zuletzt, um die ästhetische Dimension der Befreiung zu aktualisieren.

Zur Person:
Roger Behrens lebt in Hamburg und ist wiss. Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Seine ›Der eindimensionale Mensch‹-Ausgabe hat er aus seiner Schulzeit Anfang der 1980er Jahre. Roger Behrens hat über Marcuse geschrieben: ›Übersetzungen – Konkrete Philosophie, Praxis und kritische Theorie (Studien zu Herbert Marcuse)‹, Mainz 2000, und ›Um der Hoffnungslosen willen‹, die Einleitung für Marcuses Nachlassschriften-Band ›Kapitalismus und Opposition‹, Springe 2017;. Gerade schreibt er eine Denkbiografie über Herbert Marcuse, die im Schmetterling Verlag erscheinen wird.

Dirk Wittenberg (Bremen): Form frisst Inhalt. Popkultur im Zustand der Stasis – Zur Aktualität der ‚repressiven Entsublimierung‘
Waren Popmusik und Jugendkultur noch vor nicht allzu langer Zeit vom Willen getrieben, die Jetztzeit zu verkörpern und voranzuschreiten, so scheint sich ihre Innovationsfähigkeit abgenutzt zu haben. Popkultur ist, nach einem Wort des Pop-Kritikers Simon Reynolds, von einer Retro-Manie befallen: Einer Obsession mit der eigenen unmittelbaren Vergangenheit – deren Überhandnehmen mit der allgegenwärtigen Verbreitung digitaler Technik möglicherweise nicht nur zeitlich zusammenfällt. Wenn zuvor Namen wie die Beatles, die Sex Pistols oder Madonna dafür standen, was popkulturell in dem jeweiligen Jahrzehnt passiert ist, dann haben fürs neue Jahrtausend der iPod, YouTube oder Spotify diese Stelle eingenommen. Im Vortrag sollen einerseits Elemente dieser Entwicklung, der Übertragung von Innovationsfähigkeit vom Künstlerischen aufs Technologische, nachgezeichnet werden. Anderseits soll der Versuch unternommen werden, den Widerspruch zwischen rasantem technischem Fortschritt und (pop-)kulturellem Stillstand im Anschluss an den Begriff der repressiven Entsublimierung zu deuten, der bei Marcuse (auch) für den Prozess steht, in dem technologische Rationalität Oppositionelles und Transzendierendes in der Kultur beseitigt.

Zur Person:
Dirk Wittenberg, Politik- und Kulturwissenschaftler M.A., freier Autor, Redakteur beim Extrablat. Aus Gründen gegen fast alles.

Christian Loos (Münster / Hannover): »Radikale, non-konforme Sinnlichkeit« . Zum Anthropologischen bei Herbert Marcuse  

Die Zerstörung der Natur und die Verdinglichung des Menschen erfordern im Sinne Marcuses „eine radikale gesellschaftliche Veränderung“, die eine „radikale Transformation der Natur“ einschließt. Für diese essentielle Befreiungsutopie der Gesellschaft muss die Natur als Subjekt anerkannt werden. Die zu schaffende neue Ordnung der Sinnlichkeit überführt die auf Zweckrationalität ausgerichtete Gesellschaft in eine ästhetisch-aisthetische. Die Emanzipation der Sinne schafft einen „inneren und äußeren Spielraum[] der Stille, der individuellen Autonomie und Gelassenheit“, der einer qualitativen Veränderung der Gesellschaft entspricht und mit einer chronologisch-monetisierten Zeitkategorie bricht. Als eine Fiktion besserer Verhältnisse impliziert Marcuses Entwurf einer Gesellschaftskritik einen Bildungsbegriff, der auf die eigenständige Aufklärung des Individuums setzt. Durch sinnliche „Selbst(er)kennntis“ lernt der Mensch Entfremdungs- und Fragmentarisierungsprozesse zu dechiffrieren. Die zugrunde liegenden anthropologischen Anteile des Konzepts „radikaler Sinnlichkeit“ sollen nicht nur, wie vielfach bereits erfolgt, hinsichtlich der Marxrezeption (philosophisch-ökonomische Manuskripte), sondern vor allem in Bezug auf die feuerbachsche Leibphilosophie kritisch diskutiert werden. Marcuses Ansätze einer gastrosophischen Ethik korrespondieren beispielsweise mit Feuerbachs eudämonistischer Genussethik, das Zusammenspiel einer „neuen Sensibilität mit einer neuen Rationalität“ mit dem feuerbachschen Konzept der „sinnlichen Vernunft“. Mit Feuerbach gilt es den Begriff einer „qualitativen Natur“ in der Naturkonzeption Marcuses zu beleuchten. Da die sinnliche Umgestaltung des Daseins nicht teleologisch, sondern kantisch als „Zweck ohne Zweckmäßigkeit“ erfolgen soll, stellt sich zudem die Frage nach der konkreten Umsetzung. Die Realisation der sinnlichen Befreiung von Mensch und Natur droht Illusion zu bleiben, wenn das Konzept nicht an den konkreten gesellschaftlichen Parametern bemessen wird. Erörtert werden soll zudem, ob sich auch bei Marcuse ein anthropologischer Vernunfttypus eruieren lässt, auf den als Ausgangspunkt für das Konzept der Sinnlichkeit rekurriert wird.

Zur Person:
Christian Loos ist CIVITAS-Stipendiant am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover und Doktorand am Philosophischen Seminar der WWU in Münster. Thema seiner Dissertation ist Ludwig und Friedrich Feuerbach. Eine kritisch-reflexive Anthropologie einer „neuen“ Leiblichkeit.