Samstag, 22. Juni 2019

Konferenzprogramm und Ankündigung

Eröffnungsvorträge von Peter-Erwin Jansen (Frankfurt a.M.): Marcuses Feindanalysen und die weiteren Nachgelassenen Schriften & Charles Reitz (Kansas City): Mit einem erweiterten Marcuse arbeiten: Aufbau der Theorie und Praxis für ein alternatives Weltsystem

Panel 1: 1968 & Folgen

Key-Lecture von Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld)

Jens Benicke (Freiburg): Von Marcuse zu Mao – Die Entwicklung der Marcuse-Rezeption vom antiautoritären Flügel der Studierendenbewegung zu den K-Gruppen
1967 bezeichnete die Wochenzeitung „Die Zeit“ Herbert Marcuse als das „Idol der Studenten“. Diese Titulierung zeigt eindrucksvoll den Stellenwert, den die Gedanken des in den USA lebenden Kritischen Theoretikers bei den antiautoritären Studierenden hierzulande hatte. Marcuses Einfluss auf die studentische Theoriebildung und auch auf deren praktische Umsetzung kann gar nicht überschätzt werden. Doch dieser Zustand war nur von kurzer Dauer. Schon auf dem Höhepunkt der Studierendenbewegung begann eine Absatzbewegung hin zu traditionalistischen marxistisch-leninistischen Positionen, die von Rudi Dutschke als „Anti-Marcuse-Welle“ bezeichnet wurde. Diese Entwicklung wurde durch die Entstehung der K-Gruppen abgeschlossen, die in Herbert Marcuse nur noch einen von der Bourgeoisie gelenkten Konterrevolutionär sahen. Diese Entwicklung soll nachgezeichnet werden.

Zur Person:
Jens Benicke hat an der Universität Freiburg zum Thema „Die Rezeption der Kritischen Theorie und die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit von der antiautoritären Fraktion der Studentenbewegung zu den K-Gruppen“ promoviert. Zuletzt ist von ihm „Die K-Gruppen: Entstehung – Entwicklung – Niedergang“ im Springer VS-Verlag erschienen.

Jan Rickermann (Oldenburg): Zu den Sachen der Kritik. Marcuses Begriff des Politischen Existentialismus als Kritik post-moderner Befreiungsperspektiven am Beispiel von Chantal Mouffe
Die Aufforderung „Weiter machen!“, die Marcuses Grabstein ziert, deutet bereits an, dass eine Tätigkeit, die unterbrochen wurde oder an ein Hindernis gelangt ist, fortgeführt werden soll. Sie ist, gerade auf Marcuses Grab, keine abstrakte Forderung. Sie verlangt hingegen eine Reflexion auf die begonnene Auseinandersetzung mit den Verhältnissen und dem Versuch, sich aus diesen zu befreien. Marcuse nimmt in der Rezeption der kritischen Theorie eine besondere Rolle ein. Zum einen werden seine Schriften heute leider auffallend wenig wahrgenommen, zum anderen wird er oftmals, „zu Unrecht“ wie Detlev Claussen betonte, „als politisch optimistischer Mensch gegen den pessimistischen Theoretiker Adornos ausgespielt“. Dass Marcuse als bewegungs- und utopiefreundlicher gilt, liegt vielleicht auch daran, dass seine Begriffe wie „Große Weigerung“ oder das Konzept der „Randgruppen“ den Eindruck vermitteln, konkreter auf die Situation der Menschen einzugehen. Die aktuelle Situation, in der sich die vermeintlich emanzipatorischen Kräfte befinden, stimmt jedoch wenig optimistisch. Die noch von Marcuse formulierte Forderung nach universeller Befreiung wurde in weiten Teilen der Linken aufgegeben – und dies fatalerweise auch bei so wichtigen Themen wie Antirassismus und Feminismus. Diese Absage an universalistische Utopien ist hier weniger in der Perspektivlosigkeit eines unterstellten Endes der Geschichte auszumachen, sondern in falschen (partikularen) Vorstellungen der Befreiung, in der „verkehrten Utopie“ (Rainer Rotermundt) in Gestalt der Remystifizierung des Politischen. An Heidegger und Schmitt orientierte Deutungen der gesellschaftlichen Verhältnisse (z.B. durch Derrida, Agamben, Mouffe) haben in Teilen der Linken an Bedeutung gewonnen, wo die Marxsche Kritik als zu abstrakt erscheint, um das konkrete Leben der Unterdrückten zu fassen oder konkrete Handlungsperspektiven zu bieten. Die Konsequenz dieser Zuwendung ist jedoch nicht zuletzt die Flucht in Identitätspolitik und Kulturrelativismus sowie die Ersetzung von Wahrheit durch das vermeintlich unmittelbare Betroffensein, dem „existentielle[n] Teilhaben und Teilnehmen“ (Carl Schmitt). Marcuse, der als Schüler Heideggers immer auch eine kritische Distanz zur Existentialontologie wahrte und dessen Kritik durch „Feindanalysen“ seine Präzision erhielt, ist als wichtiger Einspruch gegen diese Entwicklungen zu lesen. Das Verhältnis von Marcuses Philosophie zur Existentialontologie Heideggers sowie insbesondere sein Begriff des Politischen Existentialismus ermöglichen eine kritische Perspektive auf aktuelle Theorien. Jene Theorien, die entgegen Marcuse die Aufklärungsphilosophie und den Liberalismus nicht als bisher unverwirklichtes Potential erkennen. Diese an Schmitt und Heidegger orientierten Theorien bekämpfen den Liberalismus als „Weltanschauung“, was Marcuse bereits am Politischen Existentialismus kritisierte und fordern dabei die „gezähmte“ (Chantal Mouffe) Feindschaft. Diesen Theorien ist gemein, dass sie einen falschen Ausweg aus den Verhältnissen anstreben und dabei „die einheitliche Grundlage erhalten: die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum“ (Herbert Marcuse). Der sich durch Marcuses Werk ziehende Versuch, durch Rückgriff auf die Vernunftphilosophie eine emanzipatorische Aufhebung des Kapitals einzufordern, postuliert ein „Weitermachen“, das die Probleme der Vernunft nicht einseitig auflöst, indem er ihre Geltung mit ihrer Genese identisch und den Relativismus als eigentliche Wahrheit setzt. Die
den Liberalismus aufhebende Kritik wäre vielmehr die Forderung nach universeller Befreiung, deren Bedingung der Möglichkeit verteidigt werden muss. So kann dazu beigetragen werden, dass der erneute Versuch über die Befreiung nicht erneute Unfreiheit einfordert.

Zur Person:
Jan Rickermann studiert Philosophie in Oldenburg. Er ist Mitglied der Redaktion Extrablatt: Aus Gründen gegen fast alles.

Panel 2: Ästhetik und Befreiung

Key-Lecture von Roger Behrens (Hamburg): Versuch über die Befreiung – die ästhetische Dimension

1969 war 1968 schon vorbei, die Revolution hatte nicht stattgefunden und die drei zentralen Forderungen »Die Phantasie an die Macht!«, »Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche!« und schließlich, die meist vergessene, »Arbeitet niemals!« blieben in jeder Hinsicht unabgegolten, bis heute. Alle drei Forderungen waren und sind verknüpft mit dem, was Herbert Marcuse schon 1955 in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ als »ästhetische Dimension« fasste. Die »ästhetische Dimension« ermöglicht, wie Marcuse dann in ›Versuch über die Befreiung‹ 1969 ausführte, das Zusammenspiel einer »neuen Sensibilität mit einer neuen Rationalität«; sie wird »eine Art Eichmaß für eine freie Gesellschaft«, die aus einer Revolution resultierte, die den Menschen »von den repressiven Befriedigungen der unfreien Gesellschaften befreit« und so den geschichtlichen Boden dafür bereitet, dass die Menschen sich über neue, noch zu entdeckende und zu formulierende menschliche Bedürfnisse als Menschen überhaupt erst (selbst) begegnen können. Die Kunst bewahrt dieses Versprechen auf Befreiung – aber zugleich ist sie auch »Waffe der Kritik« (Marx), und zwar gerade dann, wenn sie in die politische Praxis eingebunden, ja selbst politische Praxis wird: Marcuse sprach vom »ästhetischen Ethos« der Revolution, auch vom »Ästhetischen als mögliche Form einer freien Gesellschaft«.
Mit dieser Verbindung von Befreiung und Ästhetik, die auf Schiller zurückverweist, ging Marcuse in seiner kritischen Theorie über Adorno hinaus (Adorno stirbt 1969; posthum erscheint die ›Ästhetische Theorie‹ 1970), gerade weil er die Bedeutung der Praxis anders akzentuierte; das zeigt sich an der Stellung von Kunst und Ästhetik in Marcuses Schriften: In ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ und ›Der eindimensionale Mensch‹, in ›Versuch über die Befreiung‹, ›Konterrevolution und Revolte‹ und selbst in der Spätschrift ›Die Permanenz der Kunst‹ sind die Analysen zu Kunst und Ästhetik immer gesellschaftskritisch kontextualisiert, ist die »ästhetische Dimension« auf die Möglichkeit der sozialen Emanzipation, schließlich Revolution gerichtet (›The Aesthetic Dimension‹ ist der Titel der US-amerikanischen Ausgabe von ›Die Permanenz der Kunst‹).
Überdies versuchte Marcuse durch seine philosophisch radikalisierte Freud-Lektüre an die (klassischen) Avantgarden anzuknüpfen, vor allem an den Surrealismus (der selbst wesentlich psychoanalytisch beeinflusst ist); insofern bedeutet die ästhetische Dimension der Befreiung auch die Aktualisierung der alten Avantgarde-Forderung, Kunst in Lebenspraxis zu überführen. Das wiederum brachte Marcuse in die Nähe der – gleichwohl selbst in ihren subversiven Formen maßgeblich an Markt und Profit ausgerichteten – Popkultur; zumindest interpretierte Marcuse Rock ’n‘ Roll und Soul immer wieder sporadisch als eine Kulturrevolution, die eben die ästhetische Dimension der Befreiung politisch-künstlerisch aufgenommen hatte.
Zu diskutieren ist, ob Marcuse nicht angesichts der von ihm selbst diagnostizierten »Konterrevolution« die Kräfte der ästhetischen Dimension der Befreiung überschätzte, ob er nicht schließlich die Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaften in Hinblick auf ihre Integrationsfähigkeit gerade in Bezug auf Kunst und Ästhetik unterschätzte. Der Vortrag versucht dafür sowohl historisch und systematisch die Genese der (bürgerlichen) Kunst zu rekonstruieren, als auch einerseits die – sehr unterschiedliche, wenn nicht disparate – Rezeption von Marcuses kritischer Theorie seit 1968 zu beleuchten, andererseits andere, zu Marcuse mitunter kontrovers entwickelte Konzepte materialistischer Ästhetik in den Blick zu nehmen. – Fünfzig Jahre nach Marcuses radikaler Verbindung von Emanzipation und Ästhetik ist eine ebenso radikale Neubewertung fällig – nicht zuletzt, um die ästhetische Dimension der Befreiung zu aktualisieren.

Zur Person:
Roger Behrens lebt in Hamburg und ist wiss. Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Seine ›Der eindimensionale Mensch‹-Ausgabe hat er aus seiner Schulzeit Anfang der 1980er Jahre. Roger Behrens hat über Marcuse geschrieben: ›Übersetzungen – Konkrete Philosophie, Praxis und kritische Theorie (Studien zu Herbert Marcuse)‹, Mainz 2000, und ›Um der Hoffnungslosen willen‹, die Einleitung für Marcuses Nachlassschriften-Band ›Kapitalismus und Opposition‹, Springe 2017;. Gerade schreibt er eine Denkbiografie über Herbert Marcuse, die im Schmetterling Verlag erscheinen wird.

Dirk Wittenberg (Bremen): Form frisst Inhalt. Popkultur im Zustand der Stasis – Zur Aktualität der ‚repressiven Entsublimierung‘
Waren Popmusik und Jugendkultur noch vor nicht allzu langer Zeit vom Willen getrieben, die Jetztzeit zu verkörpern und voranzuschreiten, so scheint sich ihre Innovationsfähigkeit abgenutzt zu haben. Popkultur ist, nach einem Wort des Pop-Kritikers Simon Reynolds, von einer Retro-Manie befallen: Einer Obsession mit der eigenen unmittelbaren Vergangenheit – deren Überhandnehmen mit der allgegenwärtigen Verbreitung digitaler Technik möglicherweise nicht nur zeitlich zusammenfällt. Wenn zuvor Namen wie die Beatles, die Sex Pistols oder Madonna dafür standen, was popkulturell in dem jeweiligen Jahrzehnt passiert ist, dann haben fürs neue Jahrtausend der iPod, YouTube oder Spotify diese Stelle eingenommen. Im Vortrag sollen einerseits Elemente dieser Entwicklung, der Übertragung von Innovationsfähigkeit vom Künstlerischen aufs Technologische, nachgezeichnet werden. Anderseits soll der Versuch unternommen werden, den Widerspruch zwischen rasantem technischem Fortschritt und (pop-)kulturellem Stillstand im Anschluss an den Begriff der repressiven Entsublimierung zu deuten, der bei Marcuse (auch) für den Prozess steht, in dem technologische Rationalität Oppositionelles und Transzendierendes in der Kultur beseitigt.

Zur Person:
Dirk Wittenberg, Politik- und Kulturwissenschaftler M.A., freier Autor, Redakteur beim Extrablat. Aus Gründen gegen fast alles.

Christian Loos (Münster / Hannover): »Radikale, non-konforme Sinnlichkeit« . Zum Anthropologischen bei Herbert Marcuse  

Die Zerstörung der Natur und die Verdinglichung des Menschen erfordern im Sinne Marcuses „eine radikale gesellschaftliche Veränderung“, die eine „radikale Transformation der Natur“ einschließt. Für diese essentielle Befreiungsutopie der Gesellschaft muss die Natur als Subjekt anerkannt werden. Die zu schaffende neue Ordnung der Sinnlichkeit überführt die auf Zweckrationalität ausgerichtete Gesellschaft in eine ästhetisch-aisthetische. Die Emanzipation der Sinne schafft einen „inneren und äußeren Spielraum[] der Stille, der individuellen Autonomie und Gelassenheit“, der einer qualitativen Veränderung der Gesellschaft entspricht und mit einer chronologisch-monetisierten Zeitkategorie bricht. Als eine Fiktion besserer Verhältnisse impliziert Marcuses Entwurf einer Gesellschaftskritik einen Bildungsbegriff, der auf die eigenständige Aufklärung des Individuums setzt. Durch sinnliche „Selbst(er)kennntis“ lernt der Mensch Entfremdungs- und Fragmentarisierungsprozesse zu dechiffrieren. Die zugrunde liegenden anthropologischen Anteile des Konzepts „radikaler Sinnlichkeit“ sollen nicht nur, wie vielfach bereits erfolgt, hinsichtlich der Marxrezeption (philosophisch-ökonomische Manuskripte), sondern vor allem in Bezug auf die feuerbachsche Leibphilosophie kritisch diskutiert werden. Marcuses Ansätze einer gastrosophischen Ethik korrespondieren beispielsweise mit Feuerbachs eudämonistischer Genussethik, das Zusammenspiel einer „neuen Sensibilität mit einer neuen Rationalität“ mit dem feuerbachschen Konzept der „sinnlichen Vernunft“. Mit Feuerbach gilt es den Begriff einer „qualitativen Natur“ in der Naturkonzeption Marcuses zu beleuchten. Da die sinnliche Umgestaltung des Daseins nicht teleologisch, sondern kantisch als „Zweck ohne Zweckmäßigkeit“ erfolgen soll, stellt sich zudem die Frage nach der konkreten Umsetzung. Die Realisation der sinnlichen Befreiung von Mensch und Natur droht Illusion zu bleiben, wenn das Konzept nicht an den konkreten gesellschaftlichen Parametern bemessen wird. Erörtert werden soll zudem, ob sich auch bei Marcuse ein anthropologischer Vernunfttypus eruieren lässt, auf den als Ausgangspunkt für das Konzept der Sinnlichkeit rekurriert wird.

Zur Person:
Christian Loos ist CIVITAS-Stipendiant am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover und Doktorand am Philosophischen Seminar der WWU in Münster. Thema seiner Dissertation ist Ludwig und Friedrich Feuerbach. Eine kritisch-reflexive Anthropologie einer „neuen“ Leiblichkeit.

Panel 3: Philosophie und Psychoanalyse

Key-Lecture von Rolf Pohl (Hannover): Metapsychologie, Realitätsprinzip und neue Formen der Repression. Zur Aktualität der Psychoanalyserezeption von Herbert Marcuse
Zu den wichtigsten Beiträgen Marcuses zur Kritischen Theorie gehören vor allem seine nicht nur philosophisch, sondern auch politisch relevanten Ansätze zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Seine subjekttheoretische Orientierung gründet dabei in einer systematischen Rezeption und Weiterentwicklung einschlägiger Konzepte der Freudschen Metapsychologie. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere das Verhältnis von Lust- und Realitätsprinzip sowie dessen Pervertierung zum Leistungsprinzip „in einer auf Erwerb und Wettstreit ausgerichteten Gesellschaft“, außerdem die häufig biologistisch missverstandene Triebtheorie und die ebenso häufig ich-psychologisch verkürzten Hypothesen zur Arbeitsweise des psychischen Apparats. Als sein Hauptanliegen bezeichnet Marcuse aber „nicht eine verbesserte oder veränderte Ausdeutung der Freudschen Konzeptionen, sondern die sich aus ihnen ergebenden philosophischen Folgerungen und Auswirkungen“. Seine „Philosophie der Psychoanalyse“ ist damit aber zugleich als eine emanzipatorisch ausgerichtete Politische Psychologie zu verstehen, in der sich die Idee eines „subversiven Unbewussten“ auf spezifische Weise mit der Kritik an der gegenwärtigen Klassengesellschaft verbindet. Mit den darin entwickelten Ansätzen einer Dialektik von Repression und Befreiung ist eine gesellschaftstheoretische Wendung des psychologistisch eingeengten Blicks der Psychoanalyse aufs Subjekt möglich geworden, die nicht nur für die 68er-Bewegung eine nachvollziehbare Attraktivität besaß, sondern nach wie vor auch für aktuelle Zeitdiagnosen und politische Alternativbewegungen eine wichtige Orientierungsfunktion einnehmen könnte (Ökologiebewegung, Geschlechterpolitik, Kampf gegen Rechtsextremismus).

Aaron Lahl (Berlin): Unterdrückung oder Verdrängung – Zur Marcusekritik Jean Laplanches
Bei den vom französischen Psychoanalytiker Jean Laplanche verfassten „Notes sur Marcuse et la psychanalyse“ (1969; 1970 auf Deutsch im Merve-Verlag erschienen) handelt es sich wohl um die tiefgreifendste psychoanalytische Auseinandersetzung mit Marcuses Projekt, den buchstäblich revolutionären Gehalt der freudschen Triebtheorie auszulegen. Einer der zentralen Einwände Laplanches lautet, dass Marcuse das Konzept der Verdrängung zugunsten eines unsauber verwendeten Begriffs der Unterdrückung aufgegeben habe, wo doch gerade der durch die Psychoanalyse aufgedeckte Mechanismus der Verdrängung „spezifischer und originaler ist, als der Begriff der Unterdrückung, der in der Geschichte unserer Kultur keine Neuentdeckung darstellt“. Und tatsächlich schreibt Marcuse in Eros and Civilization unterschiedslos von „repression“ – eine Ungenauigkeit, die auch die schwankende Übersetzung ins Deutsche (mal mit „Verdrängung“, mal mit „Unterdrückung“) nicht entknoten konnte.
Zum Verhältnis von Verdrängung und Unterdrückung, das mit demjenigen von Laplanche und Marcuse und letztlich auch mit demjenigen einer französischen und einer amerikanischen Freudrezeption zusammenhängt, sollen im Vortrag einige Thesen entwickelt werden. Neben Ausführungen zu Freuds Verwendung dieser beiden Begriffe soll insbesondere ein Zusammenhang dieses Gegensatzes zum psychoanalytischen Verständnis von Sexualität aufgewiesen werden: Laplanches Konzeption einer durch Verführung geweckten infantilen Sexualität und Marcuse letztlich biologisches Paradigma stehen hier im schroffen Gegensatz zueinander. Dies erweist sich als wesentlich für die Frage, was psychoanalytisch gesehen sexuelle Befreiung bedeuten könnte.

David Jäger (Frankfurt a. M.): Autoritärer Charakter, affirmativer Charakter –
Sozialcharakter des 21. Jahrhundert
An die Stelle des autoritären Charakters (Fromm, 1936) ist ein neuer Typus getreten. Er ist nicht weniger autoritär, aber er ist es weniger offen. Er unterdrückt in gleichen Maßen seine innere Freiheit und sucht dafür seinen Sündenbock. Der affirmative Charakter trägt den Anforderungen moderner bürokratischer und politischer Organisationen nach formbaren Gliedern der Gesellschaft Rechnung, indem ein autonomes Ich, das zur Selbstreflexion fähig ist verschwindet, da es ohnehin nur zum „Hemmnis der Produktion“ (DdA, 1944, S. 212) in einer konfektionierten Welt wird. Marcuse stellte in seiner Schrift über das Veralten der Psychoanalyse (1965) fest, dass das Ich, welches sich ohne viel Kampf entwickele, eine ziemlich schwache Wesenheit sei, wenig geeignet den Mächten wirksamen Widerstand entgegenzustellen, die heute das Realitätsprinzip durchsetzen. Während dem intakten Individuum am Ende des langen Kampfes mit dem Vater noch die Fähigkeit zu Teil wurde die ihm von außen kommenden Maßstäbe durch seine Ich-Instanz zu beurteilen, fehlt dem Selbst ohne Ich die Instanz zur Bewertung der fremden Maßstäbe nach denen es in Zukunft sein Leben ausrichten soll. Wo das Ich noch der Hort des Individuums war, wird es heute zur Durchgangspassage gesellschaftlicher Anforderungen. Wo früher noch Raum war für Gewissen, Autonomie und die Möglichkeit des Widerstandes gegen den sozialen Konformitätsdruck, verbleiben im affirmativen Charakter als einziges Maßsystem Leistung, Erfolg, Popularität und Einfluss, verbunden mit dem eifrigen Bestreben des Subjekts, durch ungezügelte Identifizierung mit allem, was in der Realität Macht ausübt, voranzukommen. (Horkeimer, 1967)

Panel 4: Ökologie, Technologie und Gesellschaftskritik

Key-Lecture von Maria Tsenekidou (Hannover): Herrschaft als Verwaltung digital? – Zur technoökonomischen Verdinglichung von Autorität und Sand im Getriebe der Eindimensionalität
Marcuse war weder technophob noch technoeuphorisch. Aus einer dialektischen Sicht begriff er Technik kontextuell als Herrschafts- und Befreiungsinstrument. Seine Technikkritik ist als zentraler Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftskritik nachzuvollziehen. Einige Tendenzen, die aktuell unter dem Stichwort Postdemokratie diskutiert werden, hat Marcuse bereits in seiner Eindimensionalitätsanalyse problematisiert. Er begriff technologische Rationalität als politische Rationalität, die unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung irrationaler Weise zur Verdinglichung statt zur Überwindung von verselbständigter Herrschaft führe. Gerade die enorme Produktivkraftentwicklung würde progressiven sozialen Wandel eher unterbinden als befördern und auch oppositionelle Kräfte im Rahmen des Status Quo integrieren.
Inwiefern ist diese Sichtweise Marcuses unter digitalen und neoliberalen Bedingungen (nicht) aktuell? Entlang von Big Data Phänomenen lassen sich gegenwärtige Problematiken der technoökonomischen Verdinglichung von Autorität und von demokratisch unkontrollierten Formen sozialer Kontrolle veranschaulichen. Dabei wird auch Sand im Getriebe aufgewirbelt. Die Eindimensionalität bröckelt, seitdem sie ihre eigenen Erfolgsgrundlagen hinsichtlich des Erlangens von Massenloyalität zerstört; und seitdem die hochgradig widersprüchlichen informationstechnologischen Entwicklungen ein business as usual zugleich befördern und behindern. Was aus den technischen Möglichkeiten gesellschaftlich wird, lässt sich nicht technikdeterministisch klären. Es ist primär eine politische bzw. psychosoziale Praxisfrage.

Ulrich Ruschig (Bremen): Marcuse und die Befreiung der Natur
Befreit die Natur! fordert Marcuse. Ohne solche Befreiung könne die Befreiung der Menschen von kapitalistischer Herrschaft nicht gelingen. ,Befreiung der Natur‘ unterstellt, bislang sei Natur unterdrückt worden. Das impliziert, Natur als ein Subjekt anzuerkennen, das Beherrschung erfahre. In der bürgerlichen Gesellschaft erscheint die Natur als das, was kapitalistische Benutzung aus ihr machte: bloßes Rohmaterial für die Mehrwertproduktion. Dazu passend erdachte bürgerliche Philosophie den Begriff: Natur sei bloß Objekt, Materie für den Zugriff des Subjekts.
Die Befreiung der Natur nimmt ihren Anfang erst, wenn die Natur zum Material des Kapitals und dadurch ,entmenschlichte Natur‘ geworden ist. Benutzt das Kapital die Natur, verzerrt, verdeckt und unterdrückt es deren Potentiale. Doch Natur ist nicht einfach tabula rasa, in welche das Kapital alles hineinschreiben kann. Den unter kapitalistischen Bedingungen entfalteten Produktivkräften eignet die Dialektik, mit den aus dem Kapitalverhältnis herrührenden zerstörerischen Momenten zugleich Momente zu entwickeln, wodurch die Natur überhaupt erst auf ihr Potential zu ihrer Befreiung stößt oder gestoßen wird.
Befreiung der Natur meint: Im Subjekt könne die Natur vollbringen, was sie von sich aus vergebens vermöchte, nämlich erwachen und erstmals ihre Augen aufschlagen. Erweckung der Natur ist conditio sine qua non der kommunistischen Gesellschaft.

Alexander Kurunczi (Bochum): Avocados oder Automaten? Zu Marcuses Gesten einer ökologischen Utopie
Angesichts der Virulenz ökologischer Fragen und der Notwendigkeit angesichts drohender Klimatatastrophen nachhaltige Formen der Organisation von Gemeinschaft zu entwickeln, steht nicht zuletzt die Kritische Theorie vor der Herausforderung, die normativ gesättigte Entwicklung möglicher post-kapitalistischer Zukunftsentwürfe mitzugestalten. Das Potenzial öko-sozialistischer Utopien soll aufbauend auf den Ausführungen Marcuses zum unsicheren Grund der Revolution konturiert werden. Seine programmatischen Überlegungen zum „Niemandsland der Utopie“ offerieren hier eine Perspektive, die sich als bedeutsam erweist, um das Verhältnis von Kapitalismus und Klimakatastrophe analytisch fassen zu können und radikal solidarische Handlungsformen zu entwickeln. Wird die Zukunft gegenwärtig insbesondere an Hand der Achsen der Entscheidungen des Konsum- und Lebensstils von Konsument*innen und einem als „techno-fix“ apostrophierten prometheischen Technik- und Wissenschaftsverständnis debattiert, betonen gerade Marcuses Ausführungen zur Ambivalenz der Produktivkräfte, die Kurzsichtigkeit und inhärente Komplizität solcher Lösungsvorschläge, welche dem Paradigma des „green capitalism“ verhaftet bleiben. Ausgehend von dieser Diagnose versucht dieser Vortrag, Marcues Gesten zu einer sozialistischen und ökologischen Utopie weiterzudenken und mögliche Strategien widerständiger, militanter, antikomplizitärer und gegenhegemonialer Bewegungen im technologisierten neoliberalen, postfordistischen Spätkapitalismus herauszuarbeiten.

Abschlusspodium: Erneuter Versuch über die Befreiung?

Weitermachen! – Anlässlich des 40. Todestages von Herbert Marcuse widmen wir uns in Hannover dem Schriftzug, der das Grab des Kritischen Theoretikers ziert: „Weitermachen!“
Um nicht in blinden Aktionismus und einem Vulgärpraktizismus zu verfallen, begreifen wir Weitermachen! auch als ein Moment des Innehaltens und der Reflexion. Dazu wollen wir in verschiedenen Themengebieten nach den repressiven Tendenzen suchen, dabei aber nicht das emanzipatorische Moment aus den Augen verlieren.
Weitermachen! ist eben nicht die Aufforderung zum „Weiter so!“, sondern der Drang zu Erkenntnis und Veränderung – einem erneuten Versuch über die Befreiung?

Daniel Burghardt (Köln): Eingedenken des Scheiterns
Kenneth Rösen (Wuppertal): Bildung zur Kritik
Lisa Doppler (Gießen): Kritik in Bewegung
Sarah Surak (Salisbury): Soziale Bewegungen in der Ära von Trump