Panel 1: 1968 & Folgen

Samstag, 22. Juni 2019, 13 Uhr

Key-Lecture von Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld)

Jens Benicke (Freiburg): Von Marcuse zu Mao – Die Entwicklung der Marcuse-Rezeption vom antiautoritären Flügel der Studierendenbewegung zu den K-Gruppen
1967 bezeichnete die Wochenzeitung „Die Zeit“ Herbert Marcuse als das „Idol der Studenten“. Diese Titulierung zeigt eindrucksvoll den Stellenwert, den die Gedanken des in den USA lebenden Kritischen Theoretikers bei den antiautoritären Studierenden hierzulande hatte. Marcuses Einfluss auf die studentische Theoriebildung und auch auf deren praktische Umsetzung kann gar nicht überschätzt werden. Doch dieser Zustand war nur von kurzer Dauer. Schon auf dem Höhepunkt der Studierendenbewegung begann eine Absatzbewegung hin zu traditionalistischen marxistisch-leninistischen Positionen, die von Rudi Dutschke als „Anti-Marcuse-Welle“ bezeichnet wurde. Diese Entwicklung wurde durch die Entstehung der K-Gruppen abgeschlossen, die in Herbert Marcuse nur noch einen von der Bourgeoisie gelenkten Konterrevolutionär sahen. Diese Entwicklung soll nachgezeichnet werden.

Zur Person:
Jens Benicke hat an der Universität Freiburg zum Thema „Die Rezeption der Kritischen Theorie und die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit von der antiautoritären Fraktion der Studentenbewegung zu den K-Gruppen“ promoviert. Zuletzt ist von ihm „Die K-Gruppen: Entstehung – Entwicklung – Niedergang“ im Springer VS-Verlag erschienen.

Jan Rickermann (Oldenburg): Zu den Sachen der Kritik. Marcuses Begriff des Politischen Existentialismus als Kritik post-moderner Befreiungsperspektiven am Beispiel von Chantal Mouffe
Die Aufforderung „Weiter machen!“, die Marcuses Grabstein ziert, deutet bereits an, dass eine Tätigkeit, die unterbrochen wurde oder an ein Hindernis gelangt ist, fortgeführt werden soll. Sie ist, gerade auf Marcuses Grab, keine abstrakte Forderung. Sie verlangt hingegen eine Reflexion auf die begonnene Auseinandersetzung mit den Verhältnissen und dem Versuch, sich aus diesen zu befreien. Marcuse nimmt in der Rezeption der kritischen Theorie eine besondere Rolle ein. Zum einen werden seine Schriften heute leider auffallend wenig wahrgenommen, zum anderen wird er oftmals, „zu Unrecht“ wie Detlev Claussen betonte, „als politisch optimistischer Mensch gegen den pessimistischen Theoretiker Adornos ausgespielt“. Dass Marcuse als bewegungs- und utopiefreundlicher gilt, liegt vielleicht auch daran, dass seine Begriffe wie „Große Weigerung“ oder das Konzept der „Randgruppen“ den Eindruck vermitteln, konkreter auf die Situation der Menschen einzugehen. Die aktuelle Situation, in der sich die vermeintlich emanzipatorischen Kräfte befinden, stimmt jedoch wenig optimistisch. Die noch von Marcuse formulierte Forderung nach universeller Befreiung wurde in weiten Teilen der Linken aufgegeben – und dies fatalerweise auch bei so wichtigen Themen wie Antirassismus und Feminismus. Diese Absage an universalistische Utopien ist hier weniger in der Perspektivlosigkeit eines unterstellten Endes der Geschichte auszumachen, sondern in falschen (partikularen) Vorstellungen der Befreiung, in der „verkehrten Utopie“ (Rainer Rotermundt) in Gestalt der Remystifizierung des Politischen. An Heidegger und Schmitt orientierte Deutungen der gesellschaftlichen Verhältnisse (z.B. durch Derrida, Agamben, Mouffe) haben in Teilen der Linken an Bedeutung gewonnen, wo die Marxsche Kritik als zu abstrakt erscheint, um das konkrete Leben der Unterdrückten zu fassen oder konkrete Handlungsperspektiven zu bieten. Die Konsequenz dieser Zuwendung ist jedoch nicht zuletzt die Flucht in Identitätspolitik und Kulturrelativismus sowie die Ersetzung von Wahrheit durch das vermeintlich unmittelbare Betroffensein, dem „existentielle[n] Teilhaben und Teilnehmen“ (Carl Schmitt). Marcuse, der als Schüler Heideggers immer auch eine kritische Distanz zur Existentialontologie wahrte und dessen Kritik durch „Feindanalysen“ seine Präzision erhielt, ist als wichtiger Einspruch gegen diese Entwicklungen zu lesen. Das Verhältnis von Marcuses Philosophie zur Existentialontologie Heideggers sowie insbesondere sein Begriff des Politischen Existentialismus ermöglichen eine kritische Perspektive auf aktuelle Theorien. Jene Theorien, die entgegen Marcuse die Aufklärungsphilosophie und den Liberalismus nicht als bisher unverwirklichtes Potential erkennen. Diese an Schmitt und Heidegger orientierten Theorien bekämpfen den Liberalismus als „Weltanschauung“, was Marcuse bereits am Politischen Existentialismus kritisierte und fordern dabei die „gezähmte“ (Chantal Mouffe) Feindschaft. Diesen Theorien ist gemein, dass sie einen falschen Ausweg aus den Verhältnissen anstreben und dabei „die einheitliche Grundlage erhalten: die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum“ (Herbert Marcuse). Der sich durch Marcuses Werk ziehende Versuch, durch Rückgriff auf die Vernunftphilosophie eine emanzipatorische Aufhebung des Kapitals einzufordern, postuliert ein „Weitermachen“, das die Probleme der Vernunft nicht einseitig auflöst, indem er ihre Geltung mit ihrer Genese identisch und den Relativismus als eigentliche Wahrheit setzt. Die
den Liberalismus aufhebende Kritik wäre vielmehr die Forderung nach universeller Befreiung, deren Bedingung der Möglichkeit verteidigt werden muss. So kann dazu beigetragen werden, dass der erneute Versuch über die Befreiung nicht erneute Unfreiheit einfordert.

Zur Person:
Jan Rickermann studiert Philosophie in Oldenburg. Er ist Mitglied der Redaktion Extrablatt: Aus Gründen gegen fast alles.