Panel 3: Philosophie und Psychoanalyse
Samstag, 22. Juni 2019, 16 Uhr
Key-Lecture von Rolf Pohl (Hannover): Metapsychologie, Realitätsprinzip und neue Formen der Repression. Zur Aktualität der Psychoanalyserezeption von Herbert Marcuse
Zu den wichtigsten Beiträgen Marcuses zur Kritischen Theorie gehören vor allem seine nicht nur philosophisch, sondern auch politisch relevanten Ansätze zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Seine subjekttheoretische Orientierung gründet dabei in einer systematischen Rezeption und Weiterentwicklung einschlägiger Konzepte der Freudschen Metapsychologie. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere das Verhältnis von Lust- und Realitätsprinzip sowie dessen Pervertierung zum Leistungsprinzip „in einer auf Erwerb und Wettstreit ausgerichteten Gesellschaft“, außerdem die häufig biologistisch missverstandene Triebtheorie und die ebenso häufig ich-psychologisch verkürzten Hypothesen zur Arbeitsweise des psychischen Apparats. Als sein Hauptanliegen bezeichnet Marcuse aber „nicht eine verbesserte oder veränderte Ausdeutung der Freudschen Konzeptionen, sondern die sich aus ihnen ergebenden philosophischen Folgerungen und Auswirkungen“. Seine „Philosophie der Psychoanalyse“ ist damit aber zugleich als eine emanzipatorisch ausgerichtete Politische Psychologie zu verstehen, in der sich die Idee eines „subversiven Unbewussten“ auf spezifische Weise mit der Kritik an der gegenwärtigen Klassengesellschaft verbindet. Mit den darin entwickelten Ansätzen einer Dialektik von Repression und Befreiung ist eine gesellschaftstheoretische Wendung des psychologistisch eingeengten Blicks der Psychoanalyse aufs Subjekt möglich geworden, die nicht nur für die 68er-Bewegung eine nachvollziehbare Attraktivität besaß, sondern nach wie vor auch für aktuelle Zeitdiagnosen und politische Alternativbewegungen eine wichtige Orientierungsfunktion einnehmen könnte (Ökologiebewegung, Geschlechterpolitik, Kampf gegen Rechtsextremismus).
Aaron Lahl (Berlin): Unterdrückung oder Verdrängung – Zur Marcusekritik Jean Laplanches
Bei den vom französischen Psychoanalytiker Jean Laplanche verfassten „Notes sur Marcuse et la psychanalyse“ (1969; 1970 auf Deutsch im Merve-Verlag erschienen) handelt es sich wohl um die tiefgreifendste psychoanalytische Auseinandersetzung mit Marcuses Projekt, den buchstäblich revolutionären Gehalt der freudschen Triebtheorie auszulegen. Einer der zentralen Einwände Laplanches lautet, dass Marcuse das Konzept der Verdrängung zugunsten eines unsauber verwendeten Begriffs der Unterdrückung aufgegeben habe, wo doch gerade der durch die Psychoanalyse aufgedeckte Mechanismus der Verdrängung „spezifischer und originaler ist, als der Begriff der Unterdrückung, der in der Geschichte unserer Kultur keine Neuentdeckung darstellt“. Und tatsächlich schreibt Marcuse in Eros and Civilization unterschiedslos von „repression“ – eine Ungenauigkeit, die auch die schwankende Übersetzung ins Deutsche (mal mit „Verdrängung“, mal mit „Unterdrückung“) nicht entknoten konnte.
Zum Verhältnis von Verdrängung und Unterdrückung, das mit demjenigen von Laplanche und Marcuse und letztlich auch mit demjenigen einer französischen und einer amerikanischen Freudrezeption zusammenhängt, sollen im Vortrag einige Thesen entwickelt werden. Neben Ausführungen zu Freuds Verwendung dieser beiden Begriffe soll insbesondere ein Zusammenhang dieses Gegensatzes zum psychoanalytischen Verständnis von Sexualität aufgewiesen werden: Laplanches Konzeption einer durch Verführung geweckten infantilen Sexualität und Marcuse letztlich biologisches Paradigma stehen hier im schroffen Gegensatz zueinander. Dies erweist sich als wesentlich für die Frage, was psychoanalytisch gesehen sexuelle Befreiung bedeuten könnte.
David Jäger (Frankfurt a. M.): Autoritärer Charakter, affirmativer Charakter –
Sozialcharakter des 21. Jahrhundert
An die Stelle des autoritären Charakters (Fromm, 1936) ist ein neuer Typus getreten. Er ist nicht weniger autoritär, aber er ist es weniger offen. Er unterdrückt in gleichen Maßen seine innere Freiheit und sucht dafür seinen Sündenbock. Der affirmative Charakter trägt den Anforderungen moderner bürokratischer und politischer Organisationen nach formbaren Gliedern der Gesellschaft Rechnung, indem ein autonomes Ich, das zur Selbstreflexion fähig ist verschwindet, da es ohnehin nur zum „Hemmnis der Produktion“ (DdA, 1944, S. 212) in einer konfektionierten Welt wird. Marcuse stellte in seiner Schrift über das Veralten der Psychoanalyse (1965) fest, dass das Ich, welches sich ohne viel Kampf entwickele, eine ziemlich schwache Wesenheit sei, wenig geeignet den Mächten wirksamen Widerstand entgegenzustellen, die heute das Realitätsprinzip durchsetzen. Während dem intakten Individuum am Ende des langen Kampfes mit dem Vater noch die Fähigkeit zu Teil wurde die ihm von außen kommenden Maßstäbe durch seine Ich-Instanz zu beurteilen, fehlt dem Selbst ohne Ich die Instanz zur Bewertung der fremden Maßstäbe nach denen es in Zukunft sein Leben ausrichten soll. Wo das Ich noch der Hort des Individuums war, wird es heute zur Durchgangspassage gesellschaftlicher Anforderungen. Wo früher noch Raum war für Gewissen, Autonomie und die Möglichkeit des Widerstandes gegen den sozialen Konformitätsdruck, verbleiben im affirmativen Charakter als einziges Maßsystem Leistung, Erfolg, Popularität und Einfluss, verbunden mit dem eifrigen Bestreben des Subjekts, durch ungezügelte Identifizierung mit allem, was in der Realität Macht ausübt, voranzukommen. (Horkeimer, 1967)